Espresso Juni 2021

Frankreich gemacht habe. AlsWeckruf in allen Schlafsälen wurde immer das Lied „Ella, elle l'a“ gespielt. Das hat sich bei mir so eingebrannt, wenn ich das höre, bin ich sofort imFrankreich-Modus, Freiheit, Ausbrechen, es war eine wilde Zeit. (lacht) Musik kann auch in größter Not helfen. In einer Folge Ihres Podcasts sprechen Sie über das Dachaulied, das im KZ Dachau von den Häftlingen als Durchhaltemarschlied gesungen wurde. Warum ist Ihnen dieses Lied so wichtig? Zum einen habe ich einen persönlichen Bezug zu Dachau. Ich lebe hier in Altomünster in einem ehemaligen Pfarrhaus. Der Pfarrer, der hier früher lebte, war ein Überlebender aus demKZ Dachau, der hier seinen Lebensabend verbrachte. Zum anderen fasziniert mich die Geschichte hinter dem Dachaulied. Es war ein Überlebenslied, das in den Baracken von den Häftlingen gesungen wurde. Durch das gemeinsame Singen gaben sie sich gegenseitig Mut und schafften es, ihre Menschen- würde trotz der unmenschlichen Umstände zu bewahren. Spannend daran ist, dass das Lied ganz geschickt konstruiert ist. Es hat nämlich nach außen hin den Charakter eines Propagandaliedes. ImText wird sogar der berühmte Slogan „Arbeit macht frei“ aufgegriffen. Auch musikalisch ist das Lied einem typischen Nazi-Propagandalied sehr ähnlich. Nur wenn man sich das Lied ganz genau ansieht, erkennt man den wahren Sinn dahinter. Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft werfen. Was wünschen Sie sich für die Kultur und im Spe- ziellen die Musikszene für die Zeit nach Corona? Ich glaube und hoffe, dass wir durch die Pandemie noch mehr zu schätzen wissen, welch großenWert Live-Konzerte für uns haben. Und ich wünsche mir, dass wir getreu demMotto „kaufe lokal“ auch wie- der mehr die Musiker um uns herumwahrnehmen. Vielleicht führt es in der klassischenMusik auch dazu, dass wir uns nicht mehr von diesen perfekt gestylten Klassik-Events blenden lassen, sondern wieder das echte Erleben wollen. Das, was Musik im Kern ausmacht und wo sie herkommt. Wir kommen zusammen in einemRaum, die einen machen Musik, die anderen hören zu und wir erfahren dieses Erlebnis gemeinsammit all unseren Sinnen. Herr Kreul, vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für Ihren weiteren Weg. Angelehnt an den Podcast plant Markus Kreul gerade ein Buch, in dem es auch um die Kraft der Musik gehen soll. Es soll eine Sammlung aus Geschichten werden, von Menschen, die ein beson- deres Erlebnis mit der Kraft der Musik hatten. Das Buch soll zeigen: Musik ge- hört ins Leben. Sie kann therapeutisch sein, aufbauend, erschütternd. Wenn Sie eine besondere Geschichte zu erzählen haben, melden Sie sich gerne unter der folgenden Mailadresse: m.kreul@gmx.de 24 MAKING OF Als Kulisse für den Videopodcast diente das Verstärkeramt in Pfaffenhofen. klassischenMusik. Mir persönlich ist aufgefallen, dass ich oft auch gerne etwas Persönliches von den Künstlern auf der Bühne erfahren würde, nicht nur intellektualisierte Informationen zu den Stücken. Wenn jemand ein Konzert gibt, stellt sich mir die Frage, warum der Künstler gerade dieses Programm so zusammengestellt hat und was es ihm persönlich bedeutet. Wenn es mehr persönliche Interaktion gäbe, würde das vielenMenschen die Scheu davor nehmen, in ein klassisches Konzert zu gehen. Diese Nähe zumPublikum haben wir in anderenMusikarten längst. Ich finde, die klassi- sche Musik muss endlich ihren Dünkel ablegen. In der neuesten Folge Ihres Podcasts spre- chen Sie über die heilende Wirkung von Musik. Welche Beispiele haben Sie dafür? Musik wird zunehmend als therapeutisches Mittel verwendet. ZumBeispiel wirdMusik bei geflüchtetenMenschen eingesetzt, um ihnen mit Hilfe der Musik ihres Landes ein Gefühl von Identität zu vermitteln. Es gibt zumBeispiel den Ansatz, dass man hochgradig traumatisierte Menschen, die kein Identitätsgefühl und keine Selbstwahrnehmung mehr haben, mit eigenen Instrumenten ein eigenes Lied komponieren lässt. Wenn sie das dann oft genug hören und selber spielen, gibt es ihnen ein Gefühl von Identität und Sicherheit. Bei Demenzpatienten werden Musikstücke aus der Jugendzeit eingesetzt, die ganz tief vergrabene Erinnerungen wach rufen können. Es gibt eine bekannte Dokumentation über eine spanische Ballerina, die sehr alt und mittlerweile dement ist. Wenn man ihr die Musik von Schwa- nensee vorspielt, dann macht sie imRollstuhl die Performance dazu. Das alles kannMusik. Gibt es ein Lied, dass bei Ihnen immer wie- der bestimmte Erinnerungen weckt? Ich kann mich zumBeispiel daran erinnern, als ich als Schüler zum erstenMal eine Sprachreise nach STIMMEN GESUCHT Foto: Lukas Leonhardt KULTUR Im Herbst wird Markus Kreul mit seinem Pro- gramm „ Die Kraft der Musik“ im Ingolstädter Altstadttheater auftre- ten. Ein genauer Termin steht noch nicht fest.

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