espresso - September 2021
55 POLITIK Herr Siebler, um es gleichmal vorweg zu nehmen: GroKo, Jamaika, Ampel oder R2G?* Ichwürde auf jeden Fall eineKoalitionmit der SPD bevorzugen – mit einem weiteren Partner und un- ter grüner Kanzlerschaft. Wenn sich das aber nicht bietet, weil ein dritter Koalitionspartner sich nicht zur Verfügung stellt, ist Schwarz-Grün keine Un- möglichkeit. Wir waren mit „Jamaika“ bei der Bun- destagswahl 2017 - als die FDP fluchtartig das Feld verlassen hatte - nah dran. Grün hat damals gesagt: Wir machen es, um grüne Ziele voranzubringen, auch wenn der Kompromiss mit Sicherheit ein schwieriger wird. Schon kurz nachdem sich die Grünen für Annale- na Baerbock als Kanzlerkandidatin entschieden haben, wurde der Wahlkampf von vermeintli- chen und tatsächlichen Verfehlungen ihrerseits dominiert. Die eigentlich wichtigen Themen gin- gen dabei unter. Ist das für einen Politiker an der Basis nicht auch manchmal ernüchternd? Man hat natürlich den Reflex zu sagen: Lasst uns doch über Themen reden. Diese standen eine gan- ze Zeit nicht mehr im Mittelpunkt. Man darf es aber trotzdem nicht als unwichtig abtun. Wichtig ist nämlich auch zu sehen, wieMenschenmit Prob- lemstellungen umgehen. Eine Kanzlerin Annalena Baerbock muss auch gegen jemanden wie Putin oder Erdogan bestehen. Für viele Bürger*innen zeigt sich dabei, wie jemand mit diesen Situationen umgeht – das wird bewertet. Dann ist es doch auch gerechtfertigt, dass diese Diskussionen geführt werden. Trotzdem meine ich zu spüren, dass das Pendel wieder zurückschlägt. Die Personaldiskus- sion rückt in denHintergrund, die Sachpolitikwird wieder vorangestellt. Der Klimawandel ist eine der größten Heraus- forderungen unserer Zeit – und sicher auch der kommenden Generationen. Kann der Einzelne überhaupt etwas tun oder sindwir auf einschnei- dende politische Entscheidungen der Big Player, wie der EU, China und den USA angewiesen? Sowohl als auch. Jeder Einzelne muss etwas tun, an seinem Anspruch, seinem Verhalten. Aber es allein darauf zu reduzieren, führt nicht zum Ziel. Man braucht die richtigen Rahmenbedingungen. Nehmen wir die geplante Hendlmast in Stamm- ham, auch wenn das eher ein Umwelt- als ein Kli- mathema ist. Wenn man dem Verbraucher aufer- legt, er soll am Kühltresen entscheiden, ob er das billig oder hochwertig produzierte Hendl kauft, ist das der falsche Weg. Eine nicht dem Tierwohl entsprechende Haltung darf man erst überhaupt nicht zulassen. Dafür braucht man die großen Rahmenbedingungen auf Bundes- und EU-Ebe- ne. Beim Klimawandel ist es das Gleiche – und es wird ja auch gemacht. Zaghaft versucht man, die Laufzeiten bis zur Klimaneutralität zu verkürzen. Aber manmuss mittlerweile schon an die Klima po- sitivität denken. Man muss überkompensieren, um vielleicht noch etwas zu erreichen. Laut einer neuen Studie könnte der Golfstrom schneller als erwartet zusammenbrechen. Mit nicht absehbaren Folgen für unser Klima. Mög- licherweise wird es bei uns sehr viel kälter, wenn wir die Wärme vom Golfstrom nicht mehr haben. Schottland ist auf der Höhe von Kanada - und dort sind die Eisbären unterwegs... Das Thema mit den Kipp-Punkten dringt langsam ins Bewusstsein. Das Fatale ist, dass wir nicht wissen, ob wir überhaupt noch die Handlungsmöglichkeiten haben. Selbst das 1,5-Grad-Ziel ist zu wenig. In der Konsequenz ist es dann vielleicht "weniger extrem schlimm", wenn wir nur die 1,5 Grad erreichen, aber letzt- endlich müssen wir weiter runterkommen, wenn wir unser Leben – so wie wir es kennen – erhalten wollen. Dann gibt es noch Hartz-IV-Bezieher. Der Regelsatz für Essen liegt hier bei 5 Euro pro Tag. Da scheitert es natürlich. Es gibt viele Leute, die die soziale Komponente ins Feld führen und es ist auch sehrwichtig, das zu berücksichtigen.Wenn man will, dass Menschen sich von gesundem und tiergerechtem Essen ernähren, muss man auch die Voraussetzungen dafür schaffen - also durch eine Anpassung der Regelsätze. Seit 2001 sind Sie Berufsschullehrer. Auf der Webseite der Grünen werden Sie in einem kur- zen Portrait vorgestellt. Dort ist u.a. zu lesen: „Insbesondere im Bereich der Schulen sind wir noch weit von einer echten Inklusion entfernt.“ Wo sehen Sie denn Verbesserungsbedarf? Es hakt z.B. an der Schulbegleitung. Jedes Kind mit Bedarf hat eigentlich laut Richtlinien eine eigene Schulbegleitung zu haben. Das führt zu Schwie- rigkeiten im normalen Schulbetrieb, weil viele Res- sourcen gebunden werden. Die Schulbegleitung muss reformiert werden. Das ist zwar ein Landes- thema, aber die Rahmenbedingungen liegen in der Bundesgesetzgebung. Wo liegt dabei das Problem genau? Die Schulbegleitung für ein Kind darf kein anderes Kind mitversorgen. Also haben wir in einem Klas- senraum möglicherweise fünf Kinder mit Bedarf und fünf Schulbegleiter - das ist für den Unter- richtsbetrieb kaum mehr händelbar. Es gibt Ideen für ein sogenanntes Pooling, wo eine oder zwei Personen mehrere Kinder begleiten. Es braucht aber nicht nur die Schulbegleitung, sondern das ganze andere Unterstützungssystem auch. Kinder mit Behinderung landen oft in einem eigenen Förderschulsystem - abseits der Regel- schulen. Das gewachsene System, wie wir es aktuell haben, führt eigentlich immer schon zu einer Separierung. Wer imFörderschulsystem ist, kommt sehr schwer wieder heraus. Man muss auch an den Regelschu- len die richtigen Angebote schaffen. Es gibt Mo- dellprojekte in Ingolstadt – z.B. über St. Vinzenz – mit Partnerklassen an verschiedenen Schulen, um sowas zumindest schonmal anzubahnen. Aber bis das zur Regel wird, braucht es noch viel an Über- zeugungskraft und Willen. Am Förderzentrum haben wir optimale Bedingungen, aber es geht dar- um, dass man das gleiche Hilfsangebot an – zumin- dest bestimmten - Regelschulen schafft. Auch wer auf dem sogenannten zweiten Ar- beitsmarkt ist, hat es schwer, auf den ersten zu K OALITIONSWÜNSCHE K ANZLERKANDIDATIN K LIMAWANDEL I NKLUSION *Das Koalitions-Einmaleins: GroKo = CDU/CSU & SPD, Jamaika = CDU/ CSU, Grüne & FDP, Ampel: SPD, Grüne & FDP, R2G = SPD, Linke & Grüne SCHWARZ-GRÜN UNMÖGLICHKEIT I ST KEINE Um nochmal zu den Hendln zurückzukommen: Wird Fleisch zu höheren Preisen für einkom- mensschwache Menschen nicht zum Problem? Dieses Argument wird v.a. von den Massenpro- duzenten ins Feld geführt. Die entdecken jetzt auf einmal ihre soziale Ader. Wenn man aber ein tierverachtendes System nicht mehr hat und die Ressourcen dafür in eine artgerechte Haltung lenkt - und das einen entsprechenden Absatzmarkt fin- det, dann sinken die Preise. Das hat einen regulato- rischen Effekt. Das ist wie in der Autoproduktion. Wenn wenig Autos verkauft werden, sind die ein- zelproduzierten Autos teurer, wenn große Mengen verkauft werden, günstiger. Bei denHendln gilt das auch. Wenn man hier Vorgaben und Rahmenbe- dingungen setzt, wird es auch günstiger.
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