30 Ich halte ein Fotoalbum in den Händen und freue mich über Bilder eines jungen Ich mit trainiertem Körper, sportlichen Klamotten und jedem Problem trotzendem Lächeln. Da steht er, der „Weltbürger“. Auf Gran Canaria, mit Palmen und Kakteen daneben, und ist im Kopf schon bei der nächsten Flugreise. In die Karibik am liebsten, zumindest damals. Ich nehme einen Schluck Bier aus einem Steinkrug mit Zinndeckel, auf dem die Initialen meins Opas eingraviert sind. „J.R.“, in gotischer Schrift. Josef Reichelt. Ob er jemals Urlaub gemacht hat? Ich weiß es nicht. Der nächste Schnappschuss: Meine Familie sitzt in einem Flugzeug und lächelt in die Kamera, Sylt war das damalige Reiseziel. Keine Masken, keine Desinfektionsmittelflaschen. Reines Urlaubsfeeling. Warum wir wohl damals immer woanders sein wollten? Urlaub war nur dann wirklich interessant, wenn er exotisch nach Palmen oder heißen Temperaturen klang. Diesen Sommer war es auch zu Hause heiß. Der Umgang mit schweißtreibenden Wetterepisoden hat sich verändert. Den halben Sommer hätte ich am liebsten die Haut mit ausgezogen. Nach den zahlreichen Hitze-Superlativen habe ich aufgehört, Prognosen zu lesen. Es wird heißer, ich habe es kapiert. Mein Blick schweift über das Balkongeländer weg in die Ferne. Hinter den Rottaler Hügeln kann man heute die Alpen sehen. Schön ist es daheim. Noch gibt es Gletscher, irgendwo dort, weit hinter den Bäumen. Ob man mit zunehmendem Alter automatisch ein engeres Verhältnis zur Heimat bekommt? Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass ich nicht mehr gerne fliege oder lange im Auto sitze. Oder aber es liegt an den wunderschönen Orten in Niederbayern, die ich als Journalist bereits besuchen durfte. Ich finde es nicht verwunderlich, dass so viele Menschen ihren Urlaub hier verbringen. Hier kann man es wirklich sehr gut aushalten. Ich lege das Fotoalbum weg, trinke meinen Bierkrug leer und gehe zur Familie ins Haus. Wir müssen mal wieder in den Bayerischen Wald zum Wandern fahren. Was Familientaugliches ohne große Steigung. Nicht wegen der Kinder, nein, aber mit meinem trainierten Körper ist es nicht mehr so weit her. Und heiß ist es auch dauernd. Die Karibik würde ich heute gar nicht überleben, fürchte ich. Nicht ohne vollklimatisierte Oberbekleidung und Fred Fesls „Immerwährenden Bierbrunnen“. Aber das jedem Problem trotzende Lächeln von damals, das ist noch da. Irgendwo unter dem Bart. Ich muss es nur wieder hervorholen. Von Andreas Reichelt. ESSAY: Vom Urlaub daheim Bild: © Andreas Reichelt
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