8 ABENDZEITUNG SAMSTAG/SONNTAG, 29./30. 10. 2022 WWW.ABENDZEITUNG.DE MÜNCHEN „Diesel-Verbote sind ausgewogen“ Mehr als zehn Jahre lang ist Christine Kugler Chefin der städtischen Bäder gewesen. Auf Vorschlag der Münchner Grünen wurde sie im Stadtrat an die Spitze des neu gestalteten Referats für Umwelt und Klima gewählt. Ein Gespräch über Hitze, Stadtpolitik, Dieselverbote, Erneuerbare Energien und wie München in 20 bis 30 Jahren aussehen könnte. AZ: Frau Kugler, wir sind alle Sünder. Sie dürfen beichten. CHRISTINE KUGLER: Hmm. Okay, beichten. Ihre persönliche Klimasünde! Puh. Ich habe kein Auto, fliege seit Jahren nicht, fahre fast immer Fahrrad oder öffentlich, ernähre mich seit meinem 16. Lebensjahr vegetarisch. Ich glaube, ich habe zu viele Klamotten im Schrank. Das dürfte meine persönliche Klimasünde sein. Sie fahren kein Auto? Ich bin noch nie Auto gefahren. Schon 2023 kommen Fahrverbote für Autos bis zur Dieselnorm Euro 5. Wie ist Ihre Haltung dazu? Ich finde es wichtig, dass wir die Gesundheit aller Münchnerinnen und Münchner im Auge haben. An einigen Stellen der Stadt überschreiten wir die Grenzen für Stickstoffdioxid massiv. Sie sind überzeugte Radlerin. Freuen Sie sich heimlich? Nein! Aber was ist die Alternative? Der Freistaat Bayern hat die Zuständigkeit für den Luftreinhaltungsplan 2021 verlagert an die Kommunen. Im Hintergrund schweben zwei Gerichtsverfahren, eines mit der Umwelthilfe, eines mit dem Verkehrsclub Deutschland. Wissen Sie, was passiert wäre, wenn wir als Stadt keine Fahrverbote veranlassen würden? Die Rathausopposition behauptet ja: nichts. Was nicht stimmt. Das Gericht hätte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar Fahrverbote verhängt und geurteilt, dass wir schnellere und noch stärkere Eingriffe veranlassen müssen. Genau das ist in anderen Städten bereits passiert. Was wir jetzt mit der Umwelthilfe und dem Verkehrsclub vereinbart haben, ist, dass wir Schritt für Schritt mit Übergangsfristen vorgehen können. Es wird Ausnahmen geben, für Anwohner, Handwerker, Lieferverkehr und soziale und private Härtefälle. Das ist ausgewogen. Gibt es noch weitere Klagen? Ja. Deutschland ist auch wegen der Grenzwertüberschreitungen in München von der EU und vom Europäischen Gerichtshof verklagt worden. München wird 2022 die letzte Kommune Deutschlands sein, die noch StickstoffdioxidGrenzwertüberschreitungen hat. Und mit dem Stufenplan werden wir 2024 den seit 2010 gültigen StickstoffdioxidGrenzwert erstmalig einhalten können. Der Europäische Gerichtshof hat Deutschland bereits verurteilt. Es stehen Strafzahlungen im Raum, bis zu einer Million täglich. So etwas können wir nicht verantworten. „18 Prozent der Münchner Autos sind Dieselfahrzeuge“ CSU-Justizminister Georg Eisenreich sagt, dass Verbote nicht nötig gewesen wären. Ich habe mich sehr gewundert. Vielleicht war er nicht vollständig informiert. Von Enteignung ist die Rede. Mir ist sehr bewusst, wie schmerzhaft dieses Fahrverbot für viele Menschen ist. Deshalb haben wir uns in den außergerichtlichen Verhandlungen ja besonders auf die Ausgewogenheit und die Übergangsregelungen konzentriert. Bis 2024 gelten weitreichende Ausnahmen für Anwohner und Lieferverkehr. Und auch danach gilt: Für soziale Härtefälle und für die Versorgung der Bevölkerung können von Anfang an und dauerhaft Ausnahmeanträge gestellt werden. Wenn jemand im Krankenhaus im Schichtdienst arbeitet und ein Diesel-Fahrzeug mit der Schadstoffklasse Euro 4 fährt, kann der- oder diejenige selbstverständlich einen Ausnahmeantrag stellen. Berücksichtigen sollte man auch: Der Anteil der betroffenen Dieselfahrzeuge, die in München gemeldet sind, beträgt maximal 18 Prozent. Bis 2035 will München klimaneutral sein. Was heißt eigentlich klimaneutral? Die Münchner stoßen derzeit 5,9 Tonnen CO2 pro Kopf jährlich aus. Klimaneutralität heißt, dass wir nur noch 0,3 Tonnen CO2 jährlich pro Kopf ausstoßen. Von 5,9 auf 0,3 Tonnen CO2: Klingt nicht realistisch. Die Herausforderung ist, langlebige Infrastrukturen wie Gebäude, Verkehrswege oder Energieversorgung CO2-neutral umzubauen. Wie will man das schaffen? Gebäude zu sanieren ist ein großer Hebel. Wir müssen die Fernwärme umstellen auf Tiefengeothermie. Die Gutachter gehen davon aus, dass die Heizkraftwerke ab 2035 statt mit Gas mit grünem Wasserstoff betrieben werden. Rund sieben Prozent ist der Anteil der Energieerzeugung mit Erneuerbaren Energien direkt aus München. Richtig? Ja, in etwa. Sie waren lange bei den Stadtwerken. Hat Ihr ehemaliger Arbeitgeber den Ausbau der Erneuerbaren verschlafen? Im Gegenteil. Die Stadtwerke haben den Ausbau engagiert vorangetrieben. Aber außerhalb vonMünchen, da die regionalen Potenziale beschränkt sind. Es wurden Windkraftanlagen gebaut, offshore, onshore. Und rein rechnerisch können wir ab 2025 den Strombedarf Münchens mit Erneuerbarer Energie decken, die außerhalb Münchens hergestellt wird. „Das Potenzial von Photovoltaik liegt bei 25 Prozent“ Wie viel könnte mit regionaler Erneuerbarer Energie gedeckt werden? Das Potenzial von Photovoltaik liegt bei 25 Prozent, Wasserkraft wird optimiert undwir haben derzeit zwei Windräder. Der Anteil der Photovoltaik muss ausgebaut werden. Derzeit beträgt der Photovoltaik-Anteil erst ein Prozent. Auch das ist eine Rahmenbedingung, die wir im Nachhinein nicht beeinflussen können. In den 2010er Jahren ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz massiv gestutzt worden. Die ganze Photovoltaikwirtschaft ist eingebrochen. Eine Fehlentscheidung der Bundespolitik. Was kann man in der Stadt für die Photovoltaik tun? Bei den Neubauprojekten ist ein deutlicher Zuwachs an Solarenergie zu verzeichnen. 3500 von 350 000 Gebäuden in München sind städtisch. Trotzdem: Wir müssen natürlich auf so vielen Dächern wie möglich Photovoltaik installieren. Wir entwickeln gerade einen Masterplan „Solares München“. Wie sieht die Strategie aus? Wir wollen Gebäudeeigentümer intensiver über Photovoltaik informieren. Seit 4. Oktober haben wir ein neues kommunales Förderprogramm. Das Programm ist sehr nachgefragt, seit dem Start hatten wir insgesamt 913 Förderanträge. Da sind jetzt schon 9,5 Millionen Euro Fördermittel gebunden. Ein Teil davon entfällt auf Balkonkraftwerke (siehe S. 6). Das Ziel im Koalitionsvertrag ist: 15 Megawatt pro Jahr. Wir sind schon bei deutlich über zehn Megawatt in diesem Jahr. Bis zu 400 Windräder sind laut einer Hochrechnung in der Region München möglich. Ist die Stadt dafür geeignet? Das ist ein hochkomplexes Thema. Windkraft muss mit Naturschutz vereinbar sein. Und natürlich werdenWindräder nicht an der Bayerstraße stehen. Hat München genug Wind? Ich vertraue da dem Markt. Die Marktmechanismen entscheiden, wo es sinnvoll ist, Windkrafträder zu bauen. Ich glaube, dass wir in der RegionMünchen Windkraftpotenzial haben. Ja. Ist der Ukrainekrieg ein Beschleuniger oder eine Bremse der Energiewende? Kurzfristig ist es ein Hemmnis, weil Kohlekraftwerke etwas länger laufen. Die derzeitige Preisentwicklung löst bei vielen Menschen große Ängste aus und ist eine echte finanzielle Bedrohung. Deshalb müssen wir uns langfristig auf lokale Wärme- und Energieerzeugung konzentrieren. Die CSU sagt gerne, dass in Ihrem Referat außer Ankündigungen nichts passiert. Wir haben im ersten Jahr die strategischen Weichen gestellt und sind schon konkret in der Umsetzung. Der Stadtrat hat Anfang 2022 ein Klimaschutzpaket beschlossen, das 68 konkrete Einzelmaßnahmen umfasst. Wir haben neue Förderprogramme aufgestellt für klimaneutrale Gebäude und Antriebe. Auch haben wir ein Extra-Budget bekommen von 500 Millionen Euro. Die CSU behauptet auch: Es wird nichts ausgegeben. Man muss da zwischen „ausgeben“ und „binden“ unterscheiden. Wir haben 90 Millionen Euro in Elektromobilität gesteckt und 260 Millionen Euro verplant für das Förderprogramm klimaneutrale Gebäude. Das Geld wird aber erst zu einem späteren Zeitpunkt ausgezahlt, nämlich dann, wenn die Baumaßnahmen abgeschlossen sind. Wir werden allein für unser Förderprogramm klimaneutrale Gebäude bis 2025 etwa 130 Millionen ausgeben und im Jahr 2026 nochmals 130 Millionen Euro. „In 20 Jahren sollte die Stadt grüner, schattiger, leiser sein“ Die Stadt unterstützt teure Lastenräder. Haben Sie bei solchen Fördermaßnahmen Niedriglöhne vergessen? Nein! München-Pass-Inhaber bekommen ja die doppelte Fördersumme. Und wenn Sie auf energetische Fördermaßnahmen anspielen sollten: Davon profitieren ja Mieter. Sie zahlen am Ende weniger Geld für Heizkosten. Und wenn der Eigentümer die Sanierungskosten an die Mieter weitergibt? Dann verstößt er gegen geltendes Gesetz. Dagegen kann man als Mieter klagen. Man darf bei Sanierungsmaßnahmen den bezuschussten Teil nicht umlegen. Das ist rechtswidrig. 15 Grad Unterschied hat man im Sommer zwischen Bahnhofsviertel und Englischem Garten. Wäre es nicht sinnvoll, in solchen Gegenden mit ein paar Millionen massiv zu entsiegeln und zu begrünen? Ich gebe Ihnen da völlig recht. Manmuss über eine Neuverteilung des Straßenraums nachdenken. Entscheidend ist oft die unterirdische Infrastruktur. Wenn Leitungen verlaufen, ist es schwer, Grün unterzubringen. Wir haben 7000 Hitzetote in Deutschland. Das wird zunehmen. Der Klimawandel ist schon da: Starkregen, vermehrt heftige Stürme, heiße und trockene Sommer. Daran müssen wir unsere Stadt anpassen. Und das geht nur mit mehr Begrünung, mehr Entsiegelung, aber auch die Nutzung von Dachund Fassadenbegrünung. Wie sieht München in 20 bis 30 Jahren aus? Viel grüner und verschatteter. Ganz viel Photovoltaik auf den Dächern, möglichst viel klimaneutrale Wärmeversorgung über oberflächennahe Geothermie, Tiefengeothermie und Abwärme, gestärkte öffentliche Verkehrsmittel, stark entsiegelt, die Stadtbäche sind freigelegt, die Stadt ist leiser, deutlich bessere Luft, zirkuläre Kreislaufwirtschaft, klimaneutrale Produktion, wir teilen mehr, als wir besitzen, wir reparieren mehr. Es ist wichtig, unseren Kindern und Enkelkindern eine lebenswerte Welt zu hinterlassen. Interview: Hüseyin Ince Christine Kugler ist seit Ende 2020 Münchens Umweltreferentin. Im AZ-Interview erklärt sie, wie sie München künftig klimafit macht – und was ihre Klimasünde ist Umweltreferentin Christine Kugler mit AZ-Redakteur Hüseyin Ince. Sie unterhalten sich in ihrem Büro. Foto: Daniel von Loeper Umweltreferentin Christine Kugler auf dem Dach des Nachbarreferats für Bildung und Sport. Im Hintergrund: der Hauptbahnhof. Foto: Daniel von Loeper AZ- INTERVIEW mit Christine Kugler Chefin des Referats für Klima und Umwelt – und überzeugte Radlerin. Das Referat für Klima und Umweltschutz– und seine Rolle für die grüne Zukunft Münchens
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