espresso

espresso 10 der Idee, sich selbständig zu machen, ähnlich war es imRheinland. In dieser Situation planten die Kommunisten die Revolution in Deutschland. Ende Oktober sollte sie stattfinden. Man war sich sicher, dass Millionen kampfbereiter Arbeiter leichtes Spiel mit der nur hunderttausendMann zählenden Reichswehr und der Polizei haben würden. Der deutsche Oktober scheiterte aber spektakulär. NachdemMoskau die Revolutionierungspläne aufgab, entspann sich nun verblüffend schnell eine Kooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee. Ohne sie wäre die geheime deutsche Aufrüstung nicht möglich gewesen, die im nächsten Jahrzehnt zumAngriffskrieg der Nazis führte. Der Roman hat eine besondere Struktur. Wie sieht die aus und warum haben Sie sich für diese Form entschieden? Der Roman ist zunächst eine Art von Collage aus vielen verschiedenen Perspektiven. Als Inspiration dazu fand ich den Surrealismus, der in der Zeit nach demErstenWeltkrieg entstand und der die Absurditäten der Zivilisation und der Psyche zusammen in ein Bild bringen wollte. Dazu kommt die Montagetechnik des großen sowjetischen Filmregisseurs Eisenstein, die vom harten Schnitt lebt. Diese Formmittel passten zum so vielschichtigen Leben und dem abrupten Tod meiner Hauptfigur Larissa Reissner. Ihre Beerdigung nahm ich als Bühne, auf der all die unterschiedlichenMenschen, mit denen sie zu tun hatte, auftreten können. Die Idee dazu kammir, weil das erste Foto, das ich von ihr sah, tatsächlich zeigt, wie die Sargträger die „schöne Leiche“ aus demMoskauer Haus der Presse tragen. Natürlich dachte ich auch an Schneewittchen. So entstand die Idee, die Beerdigung als eine Art von „Welttheater“ zu nehmen. DieseWelt ist eine internationale und auch eine russische. Es geht umPolitik, Weltrevolution und Geostrategie. Aber bei Ihnen spielt immer wieder die Literatur eine wichtige Rolle. Welche Beziehung haben Sie zur russischen Literatur? Um ehrlich zu sein, beschränkte sich vor „Damenopfer“ meine Leseerfahrung hauptsächlich auf Vladimir Nabokov, den ich allerdings verehre. Als Heranwachsender habe ich Gogol gelesen, der mir sehr gefiel. Begeistert hat mich Bulgakows „Der Meister undMargarita“. Aber das war es schon gewesen. Deshalb stellte ich mir jetzt zunächst eine gewaltige Leseliste zusammen. Es warWinter, und ich igelte mich in unseremHaus mit vielen Büchern ein, bekannten wie Tolstois „Krieg und Frieden“ und eher vergessenen wie denen von Boris Pilnjak – das wichtigsteWerk aber war der Roman „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak. Nicht nur, weil Pasternak amGrabe Larissa Reissners ein Gedicht über sie vortrug, sondern weil er seine Lara auch nach Larissa gestaltet hat. Bei „Doktor Schiwago“, der übrigens mit einer Beerdigungsszene beginnt, entdeckte ich die interessante Form einer Art anschwellendenMarktplatz-Poetik: Erst eine Figur, dann zwei, dann kommen laufend, in jedemKapitel, weitere Figuren hinzu, bis der Marktplatz mit einer riesigen Volksmenge angefüllt ist – und man kennt sie amEnde alle mit Namen und Vatersnamen und weiß, wie ihre Geschichten zusammenhängen. Dieses Modell habe ich – in meiner eigenen Façon – auf „Damenopfer“ angewandt. Sie beschreiben in IhremRoman auch den Aufstieg Stalins und der ihm dienenden Bürokratie. War es nicht eigenartig, an „Damenopfer“ zu arbeiten, während das heutige Russland sich immer weiter zur kriegerischen Diktatur gewandelt hat? Die Parallelen waren sehr befremdlich und manchmal unheimlich für mich, auch deshalb natürlich, weil wir heute ja dieWiederkehr geostrategischer Konzepte erleben, von deren Entstehung ich hier erzähle. Nicht nur die „Eurasische Bewegung“, sondern gerade auch Ideen der konservativen Revolution, Radeks „Querfront“, also die Zusammenarbeit von Linken und Rechten gegen den liberalenWesten und sein politisches Modell oder auch Carl Schmitts Großraumdenken. Am stärksten hat mich angesichts des Krieges freilich die militärische Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee beschäftigt. Der gemeinsame Feind war Polen, das von der Landkarte verschwinden sollte. Deutsche Ingenieurskunst und russische Ressourcen zusammen würden Europa und dieWelt aus den Angeln heben. Vor diesemHintergrund versteht man die Irritationen unserer europäischen Nachbarn über die merkwürdige zögerliche Politik der Bundesregierung zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine noch einmal ganz anders. Doch es wäre verkehrt gewesen, den Stoff aufzugeben, weil er brisant war. Mir erschien es umso wichtiger zu zeigen, wo vieles von Putins imperialer „Geschichtspolitik“ herkommt, wo sich sein Chefideologe Dugin bedient. Und, noch wichtiger, darauf zu verweisen, dass es auch eine Zeit gab, wenn es auch nur ein paar Jahre waren, in der Moskau tatsächlich dieWelthauptstadt der Revolution und für eine gewisse Zeit wohl die freieste Stadt derWelt war. Schauplatz einer Revolution, die vor allem von den zwei Gruppen unterstützt wurde, die ammeisten unter der Herrschaft des Zaren und den Folgen des Krieges zu leiden hatten – den Soldaten und den Frauen. Noch nie zuvor in der Geschichte war den Frauen eine aktive, gestaltende Rolle zugestanden worden. Hier kamen sie erstmals zumZuge. Was denken Sie über Russlands Zukunft? Eines Tages, so hoffe ich, wird Russland – so wie Deutschland nach dem verlorenen ZweitenWeltkrieg – in die europäische Familie zurückkehren und nicht mehr für Unterdrückung stehen, sondern an seine anderen Stimmen anknüpfen können, für die Blok, Tolstoi, Gorki, Pasternak, Pilnjak, Bulgakow, für die Achmatowa undMandelstam stehen – oder eben die fantastische Larissa Reissner. Steffen Kopetzky Damenopfer Roman 448 Seiten € 26,00 (D) ISBN: 978-3737101516 erschienen im Rowohlt-Verlag Auch als E-Book erhältlich: € 21,99 (D)

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