espresso Mai 2021
48 LEBEN Spezialist für mikrochirurgische Rekonstruktion nach Ingolstadt gewechselt DR. MED. ANDREAS KEHRER Nur sehr wenige plastische Chirurgen in Deutschland operieren regelmäßig Lähmun- gen des Gesichtsnervs. Mit Priv.-Doz. Dr. med. Andreas Kehrer ist seit Kurzem ein plastischer Chirurg und erfahrener Spezialist auf diesem Gebiet ans Klinikum Ingolstadt gewechselt. Auf einmal klappt nichts mehr: lachen, lächeln, blinzeln, die Nase rümpfen, die Stirn runzeln, die Lippen schließen. Wer von einer Gesichtslähmung betroffen ist, verliert einen Teil seiner Mimik und wichtige Fähigkeiten der zwischenmenschlichen Kommunikation. In Deutschland ereilt dieses Schicksal jedes Jahr zwischen 20.000 bis 30.000 Menschen. Meist handelt es sich um eine spon- tane, einseitige Lähmung. Die gute Nachricht ist, dass sich in der Mehrheit die Lähmung wieder von selbst oder durch den Einsatz von Medikamenten zurückbildet. In den übrigen Fällen bietet die Mikrochirurgie heutzutage sehr gute Möglichkei- ten zur Verbesserung von Form und Funktion. Dies gilt auch für angeborene oder durch Unfälle oder Tumore verursachte Gesichtslähmungen. Medizinisch lautet die Diagnose Fazialisparese, be- nannt nach dem siebten Hirnnerv oder Fazialisnerv. Über ihn laufen die Impulse aus demGehirn zu den Muskeln von Stirn, Augen, Wangen undMund. Au- ßerdem steuert dieser Nerv den Speichel- und Trä- nenfluss, die Drüsen der Nasenschleimhaut und den Geschmackssinn auf dem vorderen Teil der Zunge. Die Auswirkungen einer Lähmung sind deswegen für den Betroffenen oft weitreichend. Es droht weiter das Risiko von Sehschwäche bis Erblindung, weil sich durch den fehlenden Lidschluss Horn- und Bindehaut nachhaltig entzünden können. Patienten leiden unter sozialer Stigmatisierung Am stärksten leiden viele der Patienten unter der psychosozialen Stigmatisierung. „Für die Patien- ten ist es schlimm, dass ihr Gesicht selbst in Ruhe unsymmetrisch ist und sich ihre Züge beimLächeln völlig verzerren“, sagt Kehrer von der Sektion Hand- und Plastische Chirurgie (Leitung Dr. Jan Eric Zinndorf) imZentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie. Kehrer ist seit Februar vomUniver- sitätsklinikumRegensburg nach Ingolstadt gewech- selt. Der Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie hat sich in seinen Forschungsarbeiten demFazialis-Nerv und seiner mikrochirurgischen Rekonstrukution verschrieben und sich dafür in den vergangenen Jahren auch imAusland (Großbritan- nien, Niederlande, Südkorea, Taiwan) fortgebildet. Zeitfenster von sechs bis 15 Monaten nach der Lähmung für Operationen optimal Heilt der Nerv nicht selbstständig, ist es wichtig, das Zeitfenster von sechs bis 15 Monaten für eine Behandlung zu nutzen. „Nach 18Monaten können sich ansonsten die 21 Muskeln einer Gesichtshälfte wegen des fehlenden Nervenreizes in Fettgewebe umwandeln und funktionslos werden“, warnt Kehrer. Innerhalb dieses Zeitraums kann der Patient mit den Verfahren der Mikrochirurgie wieder Lebensqualität und Normalität zurückgewinnen. „Um für die gelähmte Gesichtshälfte wieder Muskel- spannung und -beweglichkeit zurückzugewinnen, setzen wir auf die Umlagerung und Transplantation von Nerven. Wir verwenden zumBeispiel einen Ast des Kaumuskelnervs als Spendernerv, ohne dass der Kauprozess beeinträchtigt wird. Und wir verlängern den Fazialisnerv der gesunden Gesichtshälfte in die gelähmte. Dafür transplantieren wir einen weniger wichtigen Hautnerv vomUnterschenkel ins Gesicht und verbinden ihn mit denMuskeln der gelähmten Seite“, beschreibt Kehrer das Verfahren für Lähmungen im frühen Stadium. Sollte die Lähmung schon länger zurückliegen, könnenMuskeln aus demOberschenkel ins Gesicht transplantiert und auch damit gute Ergebnisse erzielt werden. „Die Narben imGesicht verhei- len unauffällig, ähnlich wie bei einemFacelift“, erklärt Kehrer. Auch bei einer schon seit 25 Jahren bestehenden Gesichtslähmung seien so noch bedeutende Verbesserungen möglich. Bei Gesichtslähmungen imKindesalter emp- fiehlt Kehrer einen Eingriff imAlter von fünf bis sechs Jahren. Dann sind die Nerven und Muskeln groß genug, und demKind blei- ben Hänseleien in der Schule erspart. Lähmungen des Gesichtsnervs beeinträchtigen mehr als nur die Mimik
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